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10 REGARDS
woxx  |  24 04 2015  |  Nr 1316
KULTUR
WAS WILL BEETHOVEN UNS SAGEN?
Sing es!
Raymond Klein
Die „Neunte“, mit Chor und Überlänge, ist ohne Zweifel
die Krönung von Beethovens sinfonischem Werk. Wie sie sich zu den acht Vorgängerinnen verhält und was das Ganze soll, damit konnte man sich vergangene Woche live in der Philharmonie beschäftigen.
Am Donnerstagabend vor einer Woche, nach der Aufführung der Achten und der Neunten, endlich ein Gläschen Rotwein in der großen Halle der Philharmonie trinken. Ge- schafft von den vier Abenden war ich schon, aber zufrieden mit dem Erlebten. Und überzeugt, dass sich der Versuch, mein Verständnis von Ludwig van Beethovens neun Sinfo- nien zu vertiefen, gelohnt hatte. Neun solcher Werke so zeitnah nacheinan- der zu hören, mag nach Durchhalte- vermögen klingen - die verschiedenen Konzerte waren von vorneherein ver- schiedenen Abonnements zugeord- net, und nur ein kleiner Teil des Pu- blikums hatte alle vier gebucht. Doch Respekt gebührt vor allem den über 80 Musikerinnen und Musiker des Royal Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam, von denen ein großer Teil Abend für Abend antrat. Und dem Dirigenten Iván Fischer, der im Stehen die Leitung der vier Konzerte bestritt, die zwischen 80 und 100 Minuten dauerten - Ovationen und Verbeugun- gen nicht mitgerechnet.
Wie häufig, stach besonders die Leistung der Bläser hervor. Ob in den Solopartien, zum Beispiel den Vogel- stimmen in der Sechsten, oder grup- piert, wie in den Trios der meisten dritten Sätze – man genoss das Klang- erlebnis. Die Musiker zeigten, dass Beethovens für seine Zeit innovativer Einsatz von Blech- und Holzinstru- menten auch heute noch, mal durch Einfallsreichtum, mal durch Sensibili- tät, beeindrucken kann. Der Klang der Streicher war weniger warm, als man es dem Concertgebouw nachsagt, da- für waren in den komplexen Passagen
wie Fugen, Durchführungen oder Co- das überraschende Reibungen zwi- schen den Stimmen herausgearbeitet.
Was das Concertgebouw nicht liefern konnte und wollte: 100 Pro- zent HIP - die „historically informed performance“, die historische Auf- führungspraxis, setzt die Benutzung alter Instrumente voraus (woxx 1314). Die Wahl einer mittelstarken Orches- terbesetzung dagegen zeugte vom Willen, sich gegen das Kolossale der romantischen Beethoven-Interpretati- on abzugrenzen. 54 Musiker bildeten die Basis, hinzu kamen die obligaten zusätzlichen Instrumente, wie Picco- lo-Flöten oder Posaunen in den Sin- fonien 5, 6 und 9. Nur für die Neun- te wurden auch die Streicher leicht verstärkt: 14 statt 12 erste Violinen, 12 statt 10 zweite und so weiter bis zu 6 statt 5 Kontrabässen, die etwas un- typisch überhöht hinter den Bläsern plaziert waren. Was „historisch“ ist, darüber lässt sich streiten: Bei der Uraufführung der Eroica sollen nur 30 Musiker auf der Bühne gewesen sein - vermutlich in Beethovens Au- gen zu wenig. Für die Uraufführung der Neunten dagegen hatte der Kom- ponist die Möglichkeit genutzt, das Orchester sehr üppig auszustatten und schätzungsweise 80 Instrumenta- listen aufgeboten.
Vier Tage Klangmacht
Vielleicht hätte das Concertge- bouw beim Auftaktkonzert vor der Pause etwas schlanker auftreten kön- nen, denn in den ersten beiden Sin- fonien vermisste man die charakte- ristische Leichtigkeit, im Scherzo der Zweiten klang die Ballung der Fortes sogar ein bisschen lästig. Doch da- für entsprach in der darauffolgenden 5. Sinfonie und an den Abenden da- nach die Klangmacht des Orchesters genau dem, was Beethovens musika- lische Dramatik erfordert. Auch bei den für die klassische Sonatenform typischen Wiederholungen folgte
Fischer dem HIP-Standard. Zwar spiel- te er am ersten Abend - vermutlich aus Zeitgründen - kaum eine der vor- geschriebenen Wiederholungen, doch danach ließ er nur jene im letzten Satz der Siebten aus.
Erste Violinen links, zweite Violi- nen rechts, abgesehen von den Kon- trabässen waren die Musiker nach „deutscher Aufstellung“ postiert. Auffällig war, dass sich die drei Po- saunen, die in der Fünften vor dem dritten Satz die Bühne betraten, nicht nebeneinander setzten. Zwei nahmen jeweils rechts und links von den Kon- trabässen ihren Platz ein, die dritte in der Mitte hinter ihnen - wohl um die Sitzreihen möglichst flächendeckend durchzuschütteln. Für die 6. Sinfonie hatte Fischer eine unhistorische, aber aus dem Geist des Werkes geborene Aufstellung gewählt: Die Bläser sollen in den Natur-Klang der Streicher ein- gebettet sein, so der Dirigent in einem Interview. Die Praxis war weniger radikal als der Ausspruch erwarten ließ: Drei Holzbläser saßen vor dem Dirigenten und waren damit von den Celli und Bratschen umgeben. Der Fagottspieler saß tatsächlich rechts inmitten der Streicher, die jeweiligen zweiten Instrumente und die Blech- bläser dafür aber weiter hinten wie bei den anderen Aufführungen. Auf- stellung hin oder her, Dirigent und Or- chester scheinen eine ganz besondere Beziehung zur Pastoral-Sinfonie ent- wickelt zu haben - als Zuhörer wur- de man regelrecht in die Harmonie der Natur hineingezogen - und fühlte sich nach dem letzten Takt wie ein Nikotinsüchtiger nach der letzten Zigarette.
Für die Neunte befanden sich dann zusätzlich die gut 70 Choristin- nen und Choristen auf der Bühne - und zwar vom ersten Satz an, genau wie die Piccolo-Flöte, das Kontra- fagott und die „türkischen“ Instru- mente, die auch erst im Finale zum Einsatz kommen. Nur die vier Ge- sangssolisten betraten erst vor dem
dritten Satz die Bühne, setzten sich dann aber zwischen die Orchester- musiker, um zur Einstimmung dem verträumten Adagio zu lauschen. Völlig überzeugen konnte allerdings nur der Bariton Florian Boesch. Der Chor dagegen - er hatte es natürlich leichter, gegen das Orchester zu be- stehen - klang großartig. Dass die Sängerinnen und Sänger jeweils beim Einsatz ihrer Stimme aufstanden - und nicht ein paar Sekunden vorher - war ungewohnt. Es tat der Qualität keinen Abbruch und half wohl, die oft recht plötzlichen Einsätze kräftig anzusingen.
Anleitung zur Entzückung
Dass die Neunte vom Publikum als Krönung von Beethovens sinfoni- schem Werk angesehen wird, bestä- tigte der Anblick, den der große Saal der Philharmonie nach Schließung der Pforten bot: Trotz Osterferien war kein einziger Sitzplatz mehr frei, und hinten lauschten gar mehrere Dutzend Musikbegeisterte im Stehen. Freie Sitzplätze hatte es auch an den an- deren Abenden kaum gegeben. Am Mittwochabend schien das Publikum am unruhigsten zu sein - Flüstern, Rascheln mit Bonbon-Papier ... Doch am Ende bedachte es die Musiker mit besonders ausdauernden standing ovations.
Gut besucht waren ebenfalls die Backstages, die vor jedem Konzert stattfindenden Begleitveranstaltungen im Kammermusiksaal. Sie halfen si- cherlich manchen Zuhörerinnen und Zuhörern, die Werke neu und anders zu erleben und zu deuten. So ging es bei dem Rundtischgespräch am ersten Abend unter anderem um Beethovens Musik als Ausdruck von Begeisterung und Entzückung. Und in der Tat, die langen Codas in vielen Finalsätzen, die beim analytischen Hören etwas anstrengend tönen, klingen als Sin- nesrausch und Freudenschrei gerade richtig.


































































































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