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woxx  |  24 04 2015  |  Nr 1316
REGARDS 11
Kann eine psychologisierende Deutung Beethovens Musik gerecht werden? Genaues Hinhören und Ein- sicht in die musikalische Struktur vorausgesetzt, ist sie beim doch viel mit sich selbst beschäftigten „Lud- wig van“ durchaus angebracht. Dabei dürfte die Individualpsychologie we- niger Anknüpfpunkte bieten als die Sozialpsychologie, denn Beethoven ist der Komponist, der das Kollektiv, die Volksmassen, die Brüderlichkeit auf die Konzertbühne brachte. Häu- fig werden Werke wie die Fünfte als Auseinandersetzung des Individu- ums mit den historischen und ge- sellschaftlichen Prozessen seiner Zeit interpretiert.
Ist die Siebte tatsächlich nur die „Apotheose des Tanzes“, als die Ri- chard Wagner sie deuten wollte? Der Finalsatz zeichnet eher, wie Friedrich Dieckmann in Lettre International 107 schreibt, „eine stürmende Heer- schar, die in immer neuen Kolonnen in die Schlacht geworfen wird“. Eine Schlachtmusik, die sich für Dieck- mann sowohl auf den Aufstand des fortschrittlichen Österreichs 1809 ge- gen Napoleon bezieht, wie auf künf- tige Aufstände im Namen der Werte der französischen Revolution. Auch Martin Gecks Kommentar in der in der Philharmonie ausgelegten Bro- schüre identifiziert hier das Thema „Der Einzelne und die Masse“, arbei- tet aber vor allem die Spiritualität he- raus, die im zweiten Satz und im Trio des dritten zum Ausdruck kommt. Die Broschüre - 176 Seiten stark - ist übrigens dank Gecks langem Essay „Neun Wege zum Ideenkunstwerk“ mit das Beste, was die Philharmonie an Freebies herausgebracht hat (als PDF verfügbar auf der Seite des Kon- zerts vom 13.).
So vielfältig die Deutungen der Werke, so verschieden auch die Ver- wendungen, die sie fanden. So dien- te das Allegretto der Siebten unter anderem als Filmmusik im Schocker „Irréversible“ von Gaspar Noé - und
als Background für ein depressives Gedicht von Philippe Labro, vorge- tragen von ... Johnny Hallyday. Doch die künstlerischen Verwendungen der Sinfonien - bis hin zur Neunten als Lieblingsmusik des Unholds aus Clockwork Orange - nehmen sich harmlos aus, vergleicht man sie mit der politischen Instrumentalisierung.
Alle lieben Ludwig
Natürlich, die Nazis. Sie ließen die Neunte bei den Olympischen Spielen von 1936 erklingen und er- freuten sich während des Krieges bei Gelegenheit des Führergeburtstags an „angenehmeren“ und „freudenvolle- ren“ Klängen. Gewiss, anders als wir vor zwei Wochen geschrieben hatten, war Beethoven Deutscher und nicht Österreicher, höchstens Wahl-Wiener. Doch bei aller Ambivalenz seiner Ver- tonung von Massenbegeisterung war er doch auch ein Anhänger der Auf- klärung und ein Humanist.
Allerdings ließ auch der große Ludwig sich instrumentalisieren - der hochwertige Kitsch, den er zu Ehren der Teilnehmer des Wiener Kongres- ses 1814 schrieb, brachte wohl mehr ein als avantgardistische Partituren für Streichquartett. Worauf er am Ende seines Lebens, enttäuscht von Napoleon und Frankreich wie ebenso von österreichischen und preußischen Reformern, seine politischen Hoffnun- gen gesetzt hat, ist nicht bekannt - vielleicht in die Menschheit.
Hätte sich der kriegsmüde Beet- hoven damals wirklich darüber ge- freut, dass, weil das Morsezeichen für V zufällig wie die Anfangstakte der Fünften klingt, diese während des 2. Weltkriegs als Jingle für BBC- Propagandasendungen benutzt wer- den würden - „V for Victory“? Oder darüber, dass Leonard Bernstein kurzerhand den Anfangsvers der Ode an die Freude zu „Freiheit schö- ner Götterfunke“ umdichten würde, um im Dezember 1989 den Triumph
der kapitalistischen Marktwirtschaft über den Sozialismus zu feiern? Und was würde Ludwig der Europäer und Universalist, lebte er noch, zu einer EU sagen, die als Europahymne die „Alle Menschen werden Brüder“-Ode wählt, und dann Tausende im Mittel- meer ertrinken lässt? Zerrissen von Wut und Zweifel würde er wohl einen weiteren musikalischen Aufruf ver- fassen, sich gegen Establishment und Konventionen zu stellen, den eigenen Idealen zu folgen und die Hoffnung nicht aufzugeben.
 ALFREDO MÜLLER / LIVORNISSIMO / CC-BY-SA 4.0


































































































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